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Grenzanlage in Bethlehem (Hannah Lutat)

U8, Hermannplatz, Berlin Neukölln. Wenige Meter unter dem wöchentlichen Obst- und Gemüsemarkt, den Kebabläden und Spätis schiebt sich ein Fahrgast durch den stickigen Gang des U-Bahnwagens. In der einen Hand ein Bier, in der anderen eine erloschene Kippe. Ich bereite mich gerade darauf vor auszusteigen, als der Biertrinker einen sitzenden Passagier als „scheiß Türke“ bezeichnet. Ein Satz, zwei Worte, drei Sekunden. Die Situation spielt sich hinter mir ab. Ob die beiden ein vorheriger Konflikt verbindet, kann ich nicht sagen, das habe ich nicht mitbekommen. Mein Fokus verlagert sich von mind the gap auf die beiden Männer. Dass der „scheiß Türke“ arabisch-sprachig war, offenbart sich erst im nächsten Moment, als ein weiter Fahrgast – vielleicht sein Freund – ihm auf Arabisch beipflichtet. Den Betrunkenen zur Rede gestellt habe ich nicht. Ich habe nicht in die Situation eingegriffen. Ich habe gar nichts gesagt, wie auch niemand um mich herum etwas gesagt hat. Die Situation hat keine Chance, sich aufzulösen, sie drängt sich durch die Enge des Waggons. Erst als sich die Türen öffnen, verläuft sie sich im Getümmel des U-Bahnhofs. Wieso greife ich nicht ein? Da vollzieht sich ein Akt der Gewalt direkt vor meinen Augen – und mindestens 20 weiteren Fahrgästen – und niemand reagiert?


Wir alle werden irgendwann freiwillig oder unfreiwillig Zeugen eines vergleichbaren Gewaltaktes. Und in den meisten Fällen lassen wir sie einfach geschehen. Aus Scham, Angst, aus Feigheit, aus Distanz, Ignoranz, Unwissenheit, mangelndem Interesse oder Unglaube über das, was da gerade passiert. Die Liste an Gründen, wieso wir nur stumm danebengestanden haben, lässt sich unendlich weiterführen.


Gewalt wird gemeinhin als Akt der physischen Verletzung verstanden. Aber genauso ist es ein Akt der Gewalt, wenn wir nichts sagen. Wenn wir einfach nur daneben­ stehen. Indem wir schweigen, mutieren wir zu Tätern, denn wir verwehren den Opfern jeglichen Raum, gehört zu werden und verpassen es, uns mit ihnen zu solidarisieren, Stellung zu beziehen. Aber „Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört.“¹


Die politische Theoretikerin Hannah Arendt betont in ihren zahlreichen Werken stets die Verantwortung eines jeden Einzelnen für sein Umfeld; Recht von Unrecht zu unterschieden und dementsprechend rechtmäßig zu handeln.

“Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden, und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“²

Haben wir verlernt, zu sprechen und zu handeln im öffentlichen Raum? Oder haben wir schlichtweg vergessen, Verantwortung zu übernehmen in dieser zunehmend verrohenden Welt?


Wir alle sind Teil einer Gemeinschaft. Es ist unsere Aufgabe, uns einzumischen. Und wenn wir uns als Einzelne zu schwach fühlen, wieso organisieren wir uns nicht im Kollektiv? Es ist, als wären wir eingeschlafen, so als hätten wir vergessen, wie Einschalten funktioniert. Die Unfähigkeit, uns spontan mit den Opfern zu solidarisieren und Position zu beziehen ist kein intuitiver Impuls mehr, beschämtes „nicht-wissen-wie-reagieren“ scheint geradezu en vogue zu sein.


Wieso reagieren wir nicht? Wieso solidarisieren wir uns nicht mit den Opfern?

Wir alle kämpfen jeden Tag. Um Anerkennung, um Liebe, um Zuneigung, um Bestätigung. Der Raum für Kämpfe abseits unserer eigenen Schlachtfelder ist begrenzt. Oder kämpfen wir nur noch gegen uns selbst? Kennen wir Gewalt nur noch als Kreuzzüge gegen die eigenen Schwächen, die eigene Speckrolle zu viel, die ersten Falten im Gesicht? Reicht der Facebook-Kommentar von gestern gegen rechte Hetze oder Migration als Akt der politischen Selbstbestimmung, als Teil­habe für die nächsten drei Jahre aus? Ist aus der Antikriegs­bewegung der guten alten 68er eine Anti-Friedensbewegung geworden? Und wann hat man damit begonnen, anstatt Molotowcocktails nur noch Teile zu schmeißen? Wenn wir nicht mal dazu in der Lage sind, Gewalt zu erkennen, wenn sie direkt vor uns geschieht – oder schlimmer, sie zwar erkennen, daraus jedoch kein Handlungsimpuls folgt – wie sollen wir uns jemals mit komplexen Situationen entgrenzter Gewalt fernab von uns auseinandersetzen? Wie sollen wir dann jemals begreifen, was in Syrien vor sich geht? Im Jemen? In Mali? In Israel-­Palästina? Im Libanon? Im Irak? In Afghanistan… Können wir uns überhaupt dazu positionieren und wenn ja, in welcher Form?


Unsere Generation ist die am besten ausgebildete, die dieses Land jemals hervorgebracht hat. Wir sind die Generation „Y“ (oder schon Z?), die 3-4 Stunden täglich auf Instagram, Facebook Snapchat und Co. verbringt. Wir schauen uns unzählige Katzenvideos auf Youtube an und streamen endlos Serien auf Netflix. Aber auf die Straße gehen wir nicht. Wir demonstrieren nicht. Von unserem Recht auf Meinungs­freiheit, Versammlungsfreiheit, von unserm Privileg der Demokratie, machen wir keinen Gebrauch. In unserer digitalen Welt mangelt es schlichtweg an einem in der Realität ausgelebtem Kollektivitätsgefühl. Weil es so einfach ist, keine Verantwortung übernehmen zu müssen und wir uns lieber hinter allem, aber nichts Konkretem verstecken. La belle indifference ist zelebrierter Lifestyle.


Was bedeutet das für uns im von Frieden übersättigten Westen? Unserem Bild von Krieg und Frieden und unser Ver­ständnis vom Engagement gegen den Krieg? Wofür oder wogegen sollen wir uns also positionieren?

Herfried Münkler schreibt in seinem Buch Die neuen Kriege, dass sich gewaltsame Konflikte in den letzten Jahren verändert haben. Der klassische Staatenkrieg ist zum historischen Auslaufmodell geworden. Private Akteure, Cyberangriffe und Drohnen haben das 2-Frontensystem abgelöst. Ideologeme stehen sich gegenüber, ethnisch­-kulturelle Spannungen haben zugenommen, religiös-motivierte Akteure gewinnen an Zuwachs. Die Kriegsindustrie prosperiert. Die neuen Kriege sind unübersichtlich geworden, chaotisch, den schnellen Entwicklungen kann man kaum mehr folgen. Sie sind komplexer geworden und stellen somit neue Herausforderungen an die Weltgemeinschaft. Frieden ist längst schon nicht mehr das Gegenteil von Krieg und nur im Entferntesten das Ende von Waffengewalt. Oder um es mit den Worten des israelischen Schriftstellers Amos Oz zu sagen:


„Der Frieden ist kein Ausbruch der Liebe, keine mystische Kommunion unter Feinden, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein gerechter und vernünftiger Kompromiss unter Gegnern.“³


Um einen Vorgeschmack zu bekommen wie dieser Kompromiss aussehen könnte, müssen wir uns nur die Bilder aus Irak oder Afghanistan anschauen. Instabilität, Unsicherheit und eine gebrochene, von Gewalt gebeutelte Zivilbevölkerung starren uns aus den staubigen Trümmern an, die die USA in ihrem „Kampf für Frieden und Demokratie“ hinterlassen haben. Aber weil das alles so schön weit weg ist, fällt es uns so leicht, das alles mit einem „schlimm was da unten passiert“ nach den Tagesthemen abzutun und wieder zur Tagesordnung überzugehen.


Unsere Kämpfe haben sich ins Private verlagert. Sie finden in der Bahn, im Büro und vor allem in den sozialen Netzwerken statt. 70 Jahre Frieden in Europa (mehr oder weniger) hat uns zu Einzelkämpfer*innen gemacht – soweit nichts Neues an der guten alten Kapitalismuskritik! Aber was bedeutet das für unser Verhältnis zu Gewalt?


„Weil handeln da anfängt, wo deine eigenen Comfortzone aufhört“ lese ich die kecke Aufschrift auf einem Jutebeutel. Wie groß sind diese Komfortzonen, in denen wir uns bewegen? Sie erscheinen mir immens! Zwar gehören sowohl eine pazifistische Überzeugung als auch ein ökologisches Bewusstsein zum guten Ton, eine Handlung folgt jedoch nur, soweit sie uns nicht einschränkt in unserem Wohlstandsalltag.

Warum ich lieber ins Schimmbad gehe? (Caroline Meyer)

Hannah führt uns zu einem kritischen Blick auf die Entgrenzung der „neuen Kriege“ und zeigt, wie der Kampf gegen den Terror uns in das Klima eines permanenten Kriegszustandes setzt.

Wasil und Elsa verlagern ihren Fokus von aktiven Kriegsschauplätzen zu deren Konsequenzen. Während Wasil aufzeigt, was uns die Revolution im Sudan über die brutale Realität der europäischen Flüchtlingspolitik am Horn von Afrika offenbart, beleuchtet Elsa den zuspitzenden Verfall grundsätzlicher menschlicher Werte im Umgang mit Schutzsuchenden, ihrem politischen und juristischen Status, und stellt eine Verbindung davon zu nachhaltigem Frieden her.

Jakob ist dem Phänomen der Radikalität nachgegangen – eine globale Tendenz in unserer pluralistischen Gesellschaft, die vor allem in Krisenzeiten und -orten zum Vorschein kommt. Wie findet sie ihren Weg in die Gemeinschaft? Was liegt ihr zu Grunde und wie gehen wir damit um, wenn unsere Gemeinschaft von radikalen Strömungen erfasst wird?

Anna hat sich mit der deutschen Waffenindustrie und deren Verantwortung für globale Konflikte auseinandergesetzt. Für sie ist klar: Kein Militäreinsatz kann gerechtfertigt werden, folglich liegt der Produktion und dem Handel von Gütern, die militärische Einsätze befeuern, keinerlei Berechtigung zu Grunde. Trotzdem: die Argumente der Waffenindustrie sind stark!


Mit unseren Arbeiten haben wir zwar das Rad nicht neu erfunden und auch keine Revolution gestartet. Aber wir haben einen Raum für uns geschaffen. Darin sehen wir unsere zivilgesellschaftliche Verantwortung.


P.S. Wieso ich also lieber ins Freibad gehe, anstatt für Frieden auf die Straße? Ich musste erst im Sommer 2019 nach Israel/ Palästina reisen, um meine Antwort zu finden: Weil ich mich wehrlos fühle und diese Ohnmacht mich lehrt, dass es unendlich schwer erscheint, damit anzufangen, Strukturen aufzubrechen.



Berlin/ Tel Aviv/ Ramallah,

Sommer 2019

 

Quellen:

1 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: Über die Banalität des Bösen, Piper München, 2004.

2 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben [1967], Piper, München, 2008, S. 165.

3 Oz, Amos: Der perfekte Frieden, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990.

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Warum ich lieber ins Freibad gehe, statt für Frieden zu kämpfen

Von Hannah Lutat
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