Wenn man dieser Tage mit dem Zug fährt, ist eins auffällig im Vergleich zu den vergangenen Jahren: Man sieht sehr viele uniformierte Soldat*innen. Dies verdankt sich einer seit Januar 2020 geltenden Vereinbarung mit der Deutschen Bahn¹, die vorsieht, dass Soldaten und Soldatinnen in Uniform kostenlos mitfahren dürfen – pauschal gegenfinanziert von der Bundeswehr. Zur Bekanntmachung der Vereinbarung lassen der Verkehrsminister und die Verteidigungsministerin verlautbaren, dass der Vertrag ausgehandelt wurde, um den Leistungen der Soldat*innen Anerkennung zu zollen.² Aber geht es wirklich ausschließlich darum? Ginge es nur um die Belohnung der Soldat*innen, so würde das kostenlose Mitfahren bei Vorzeigen eines Dienstausweises ja genügen. Welchen Grund kann es also haben, dass die Soldat*innen in Uniform reisen müssen?

Aufschlüsse über die wahre Intention kann man der Aussage des Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe Alexander Dobrindt entnehmen. „Unsere Soldatinnen und Soldaten gehören in die Mitte der Gesellschaft“³, sagte er in Bezug auf die Vereinbarung. Die Bundeswehr soll also wieder sichtbarer werden, vor allem in der Mitte der Gesellschaft, und damit Akzeptanz und Anerkennung aus der Gesellschaft erhalten. Letztlich ist es der alte Trick aus der Werbung: Wenn wir etwas nur oft genug hören oder sehen, merken wir es uns besser und halten es irgendwann für normal. Wird deshalb dafür gesorgt, dass wir mit uniformierten Soldaten konfrontiert werden, wenn wir pendeln, wenn wir Familie und Freunde besuchen oder auf Dienstreise gehen? Soldaten in Uniform zu begegnen, war für mich schon immer eine befremdliche Erfahrung, die ich bisher meistens eher im Ausland machen konnte – denn im Gegensatz zu Deutschland ist in vielen Ländern der Einsatz von Soldat*innen im Inneren üblich. In Venezuela werden Autobahn-Kontrollstellen von Soldatinnen und Soldaten betrieben und in Algerien bewachen sie viele öffentliche Gebäude – beides Aufgaben, die in Deutschland der Polizei obliegen. In den Niederlanden ist die Armee auf Volksfesten anzutreffen, wo sie in ihren Panzern Shows fahren oder sie als Fotokulisse anbieten. Und in Belgien patroullierten nach dem Terroranschlag am 22. März 2016 mit Maschinenpistolen und -gewehren bewaffnete Soldaten an Flughäfen, in Bahnhöfen und auf vielen öffentlichen Plätzen.
Das sind Szenen, die wir in Deutschland nicht gewöhnt sind, und das mit gutem Grund: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führten der vom Volk gefeierter Militärkult und die Aufrüstung dazu, dass Deutschland und Österreich-Ungarn maßgeblich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich waren. Ebenfalls wurde die Armee im Kaiserreich und in der Weimarer Republik auch immer wieder dazu genutzt, demokratische Proteste und Aufstände niederzuschlagen.⁴ Kurz darauf folgte das Dritte Reich, in der die Wehrmacht und paramilitärische Gruppen wie die SA und die SS wiederum eine entscheidende gesellschaftliche Rolle spielten und an der Ausführung der NS-Verbrechen beteiligt war.
Nach der Neugründung der deutschen Armee unter dem Namen Bundeswehr im Jahr 1955 wurden die Fälle, in denen das Militär eingesetzt werden darf, durch das Grundgesetz stark begrenzt. Das Grundgesetz besagt hierzu: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“⁵ Ein Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist nur im Verteidigungsfall⁶, zur Bekämpfung von bewaffneten Aufständischen⁷ oder zum Katastrophenschutz⁸ erlaubt – der Einsatz wird bewusst auf eng umgrenzte Bereiche beschränkt. Ebenfalls wurde das Grundgesetz lange Zeit so aufgefasst, dass die Beschränkung auf den Verteidigungsfall auch den Einsatz der Bundeswehr im Ausland, beispielsweise in humanitären Interventionen, ausschließt. Die Politik hatte aus den schlechten Erfahrungen mit der übermäßigen Liebe der Deutschen zu ihrem Militär gelernt.
Nach und nach kam es dennoch zu einer Aufweichung dieser Grundsätze und zu einer Ausweitung dessen, was die deutsche Armee darf. Zunächst gab es kleinere Missionen ohne oder nur mit geringer Kampfbeteiligung im Rahmen der NATO-Zusammenarbeit. 1999 folgte dann eine völkerrechtlich umstrittene Beteiligung der Bundeswehr im Kosovo-Krieg⁹, deren Rechtfertigung von Parlament, Medien und Bevölkerung heiß debattiert wurde. Aber schon kurz darauf kamen zahlreiche weitere Auslandseinsätze hinzu¹⁰, und wenn heutzutage über die Verlängerung der Missionen in Afghanistan oder Mali abgestimmt wird, ist das fast schon zur Formsache verkommen. Auch die Medien berichten darüber nur noch am Rande. Nachdem also innerhalb der letzten 30 Jahre Bundeswehreinsätze im Ausland normal geworden sind, soll nun in einem zweiten Schritt auch die innerdeutsche Sichtbarkeit der Bundeswehr erhöht werden, um der Armee Legitimation und gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen und das Militär wieder zu einem normalen Bestandteil der Gesellschaft werden zu lassen. Man kann das auch als Reaktion darauf werten, dass seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011¹¹ die Kontaktmöglichkeiten zwischen Zivilbevölkerung und Militär geschrumpft sind.

Die Sichtbarkeitsoffensive der Bundeswehr begann mit der Eröffnung eines Showrooms in der Mitte Berlins 2014¹², in dem über die Bundeswehr informiert und Rekruten angeworben werden. Weiter ging es mit umfangreichen Werbekampagnen¹³ der Bundeswehr, inklusive zweier Serien über das Leben als Rekrut und über den Bundeswehreinsatz in Mali¹⁴. Darauf folgte die oben diskutierte Sichtbarmachung des Militärs in den Zügen der Deutschen Bahn.
Ein neuer Schachzug ist nun der Einsatz von Soldaten in der Pandemiebekämpfung. Zunächst wurden Soldaten in den Gesundheitsämtern eingesetzt, um bei der Kontaktnachverfolgung von Corona-positiv-Gestesteten auszuhelfen¹⁵. Kommentatoren bezeichneten dies als „Militarisierung durch die Hintertür“¹⁶ und warnen vor einer „[problematischen]Vermischung von Militärischem und Zivilem [...]“¹⁷, außerhalb von Fachkreisen blieb eine Diskussion darüber jedoch aus.
Da der Bundeswehr ein Einsatz im Inneren außer im Falle der Verteidigung oder eines ausgerufenen „Inneren Notstands“ verboten ist¹⁸, blieb die Möglichkeit, den Einsatz über Anträge auf Amtshilfe juristisch zu ermöglichen, damit die Bundeswehr in Gesundheitsämtern, Pflegeheimen oder Impfzentren eingesetzt werden können – ein Prozess, der mit Hinblick auf die Pandemie-Situation von vielen als unumgänglich angesehen wird. Kritik daran wird laut, weil Amtshilfe bisher als ausschließlich technische oder logistische Hilfe der Bundeswehr für andere Ämter verstanden wurde¹⁹ – ob es sich bei den jetzigen Einsätzen um rein technische oder logistische Hilfe handelt, ist diskutabel. In jedem Falle bedeutet dieser massive Einsatz von Soldat*innen eine Neuinterpretierung dessen, was als Amtshilfe verstanden werden darf. Fast stillschweigend wurden damit in der Praxis die Befugnisse der Bundeswehr ausgeweitet.
Seit kurzem nun bieten die Verteidigungsministerin und die Bundeswehr an, neue Impfzentren zu eröffnen, die vollständig von der Bundeswehr betrieben werden, um das Impfvorankommen zu unterstützen.²⁰ Eine löbliche Idee, nur dient auch sie – absichtlich oder unabsichtlich – dazu, die Bundeswehr als unverzichtbaren Teil der Gesellschaft zu repositionieren und der ihr eine weitere Existenzberechtigung zu schaffen.

Gegen die Maßnahmen selbst lässt sich nichts einwenden – ich bin froh, wenn Soldaten auf Heimatbesuch mit der Bahn fahren, weil dies umweltfreundlicher ist als mit Privatautos zu fahren, und ebenfalls bin ich froh, wenn es Fortschritte in der Pandemie-Bekämpfung gibt. Doch was ist der Preis? 46,93 Mrd. Euro Steuergelder, die für den Militäretat 2021 ausgegeben werden? Eine Remilitarisierung der Gesellschaft? Die Ausbildung von Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern an der Waffe²¹, freundlich ermöglicht und finanziert durch die Bundesrepublik Deutschland?
In künftigen Debatten wird die Unterstützung der Bundeswehr in der Pandemie-Eindämmung sicherlich als Beweis angeführt werden, dass die Bundeswehr nötig und wünschenswert ist, um mögliche Kritik an Befugnissen oder Finanzierung der Armee zu entkräften. Dass dieser Einsatz jedoch keineswegs als Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurs folgte, sondern einfach umgesetzt wurde, dass Alternativen nicht ausreichend in Erwägung gezogen wurden und damit eigentlich keine ausreichend demokratische Legitimation für diesen Vorgang besteht, darf in zukünftigen Diskussionen jedoch nicht vergessen werden. Wir müssen unserer Verteidigungsministerin wieder mehr auf die Finger schauen, und wir brauchen eine neue, kritische Debatte – über den Zweck und die Befugnisse der deutschen Armee und darüber, welche gesellschaftliche Rolle wir ihr zugestehen möchten. Wir dürfen die Kriegstreiberei in unserer Vergangenheit nicht einfach vergessen, und als Konsequenz daraus dürfen wir eine stillschweigende Remilitarisierung nicht einfach hinnehmen. Deutschland muss und soll keine militärische Großmacht sein. Die Armee muss nicht Teil unserer gesellschaftlichen Normalität sein. Auch das gilt es bei den kommenden Wahlen zu bedenken.
Quellen und Anmerkungen:
[1] Vgl. Deutsche Bahn (2019): „Soldaten können künftig kostenlos Bahnfahren.“ URL: https://www.deutschebahn.com/de/presse/pressestart_zentrales_uebersicht/Soldaten-koennen-kuenftig-kostenlos-Bahnfahren-4391744 [Abgerufen am: 19.03.2021].
[2] Vgl. Ebd.
[3] Ebd.
[4] Vgl. Wiegold, Thomas (2017): „Ausnahmefall Deutschland – Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern“. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) online. URL: https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/254178/einsatz-im-innern [Abgerufen am: 19.03.2021].
[5] Art. 87a (2) GG.
[6] Vgl. Art. 87a (2) GG.
[7] Vgl. Art. 87a (4) GG.
[8] Vgl. Art. 35 (2) GG.
[9] Vgl. Zumach, Andreas (2009): „Zehn Jahre Kosovokrieg: Völkerrecht gebrochen“. In: TAZ online. URL: https://taz.de/Zehn-Jahre-Kosovokrieg/!5165840/ [Abgerufen am: 19.03.2021].
[10] Die aktuellen Einsätze der Bundeswehr können hier eingesehen werden: https://www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr [Abgerufen am: 21.03.2021]. Vergangene Einsätze findet man hier: https://www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr/abgeschlossene-einsaetze-der-bundeswehr [Abgerufen am: 21.03.2021].
[11] Vgl. Bundestag (2011): „Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht beschlossen“. In: Bundestag (online). URL: https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2011/33831649_kw12_de_wehrdienst-204958 [Abgerufen am: 19.03.2021].
[12] Vgl. Schmollak, Simone (2014): „ Bundeswehr bekommt Showroom: Kadercaching in Berlin-Mitte“. In TAZ online. URL: https://taz.de/Bundeswehr-bekommt-Showroom/!5028251/ [Abgerufen am: 21.03.2021].
[13] Die YouTube-Serie „Die Rekruten“ kostete mehr als sieben Millionen Euro, von denen etwa 200.000 Euro allein für Werbung auf Pizzapackungen ausgegeben wurden, die das Verteidigungsministerium kostenlos an Pizzarien verteilte. Vgl. Semstrott, Arne (2017): „Fast Food: Bundeswehrbung auf Pizzapackungen kostet 202.000 Euro“. URL: https://netzpolitik.org/2017/fast-food-bundeswehrbung-auf-pizzapackungen-kostet-202-000-euro/ [Abgerufen am: 24.03.2021].
[14] Vgl. FAZ online (2017): „Nach „Rekruten“ kommt „Mali“ : Das ist das nächste Filmprojekt der Bundeswehr“. URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundeswehr-startet-neue-webserie-ueber-mali-einsatz-15246472.html [Abgerufen am: 19.03.2021].
[15] Vgl. ZEIT online (2020): „Kontaktnachverfolgung: Soldaten unterstützen Gesundheitsämter in Großstädten“ URL: https://www.zeit.de/news/2020-10/19/soldaten-unterstuetzen-gesundheitsaemter-in-grossstaedten?utm_referrer=https%3A%2F%2Fduckduckgo.com%2F [Abgerufen am: 19.03.2021].
[16] Felix Oekentorp (2021): „Soldaten in Gesundheitsämtern: 'Ist Militarisierung durch die Hintertür'“ In: Junge Welt online. URL: https://www.jungewelt.de/artikel/397597.soldaten-in-gesundheits%C3%A4mtern-ist-militarisierung-durch-die-hintert%C3%BCr.html [Abgerufen am: 19.03.2021].
[17] Katina Schubert (2020): „Diese Vermischung von Militärischem und Zivilem ist problematisch“. In: Welt online. URL: https://www.welt.de/politik/deutschland/article216848892/Bundeswehr-im-Corona-Einsatz-Linke-warnt-vor-Gewoehnung-an-Militaer.html [Abgerufen am: 19.03.2021].
[18] Vgl. Kirsch, Martin (2020): „An der Grenze der Verfassung und darüber hinaus. Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldat*innen für Corona-Einsatz im Inland“, In: Informationsstelle Militarisierung online. URL: www.imi-online.de/2020/03/30/an-den-grenze-der-verfassung-und-darueber-hinaus/ [Abgerufen am: 21.03.2021].
[19] Vgl. ebd.
[20] Ob es zu einer Umsetzung dieses Vorhabens kommen wird, steht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels noch nicht fest. Vgl. Tutt, Cordula (2021): „Verteidigungsministerin: Kramp-Karrenbauer bietet Impf-Mobilmachung der Bundeswehr an“. In: Wirtschaftswoche online. URL: https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/verteidigungsministerin-akk-will-24-stunden-impfzentren-der-bundeswehr/ar-BB1eIyAU [Abgerufen am: 19.03.2021].
[21] Vgl. ZEIT online (2021): „Jahresbericht der Wehrbeauftragten: 477 neue Verdachtsfälle wegen Rechtsextremismus in der Bundeswehr“. URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-02/bundeswehr-rechtsextremismus-verdachtsfaelle-mad-eva-hoegl [Abgerufen am: 19.03.2021].
Bilderverzeichnis (chronologisch):
Anna Uth. Bundeswehrsoldat am Berliner Hauptbahnhof. Eigenes Werk (2021).
Anna Uth. Bundeswehr-Showroom in der Friedrichstraße. Eigenes Werk (2021).
DFG-VK. Screenshot aus: Die Pizza - Special. URL: https://www.youtube.com/watch?v=nz2zkEmC30Y. Abgerufen am 25.03.2021. Mit freundlicher Erlaubnis der DFG-VK.