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Eine Dekonstruktion der europäischen Glorifizierung anhand der Friedenstheorie Johan Galtungs und gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Aktivismus

Angenommen, es gäbe einen Planeten, der dem unseren bis auf einen einzigen Aspekt gleicht. Dieser Planet heißt Pax. Alle Bewohner*innen des Planeten Pax sind in ihrer Wertigkeit gleich. Sie haben die gleichen Chancen, Möglichkeiten, Rechte und Pflichten. Würdest du auf diesem Planeten leben wollen? Welche Möglichkeiten hättest du? Was würdest du tun, um diesen Planeten zu erreichen?


Falls du dich diesem Gedankenexperiment angenommen hast, hast du dich vielleicht gefragt, inwiefern der fiktive Planet Pax sich von der Erde unterscheidet. Dies wird im Folgenden anhand der Theorie des Friedensforschers Galtung und einer theoretischen Weiterentwicklung dargestellt. Dabei wird ein Einblick in die aktuelle Lebensrealität in Europa und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Wie wir strukturelle und direkte Gewalt überwinden und diesem Planeten näher kommen könnten, wird anhand des Engagements zivilgesellschaftlicher Aktivist*innen thematisiert.


Warum das Gegenteil von Frieden nicht Krieg ist

Johan Galtung, geboren am 24. Oktober 1930, ist ein norwegischer Politikwissenschaftler und Soziologe. Er gilt als Begründer der Friedens- und Konfliktforschung; 1959 gründete er das erste Institut für Friedensforschung, das Peace Research ­Institute Oslo. Galtung prägt den Friedensbegriff maßgeblich. So definiert er Frieden als einen Zustand, welcher durch die Abwesenheit direkter und struktureller Gewalt charakterisiert ist.¹ Dieser Ansatz erweitert das geläufige Verständnis von Frieden, worunter vorwiegend – sowohl in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik – eine reine Abwesenheit militärischer Konfrontation gefasst wird. Gewalt ist nach Galtung als Grund für den Unterschied, zwischen dem, was potentiell möglich ist und dem, was aktuell gegeben ist, zu verstehen.² Gewalt, in allen ihren Erscheinungen, ist also das, was Menschen und Gesellschaft an ihrer Entfaltung hindert. Dies lässt darauf schließen, dass für Galtung kein umfassender Frieden herrscht, wenn Strukturen existieren, die es Individuen nicht ermöglichen, das zu erreichen, was theoretisch möglich wäre.


Denken wir zurück an den fiktiven Planeten Pax. Unter der Bedingung, dass der Planet rein faktisch alle Bewohner*innen mit Nahrung versorgen kann, wird niemand den Hungerstod sterben. Ebenso, wie niemand aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung sterben wird, solange die Kapazitäten des Planeten erlauben, diese bereitzustellen. Vollständiger Frieden ist zugegen.


Setzen wir nun diesen Planeten mit Europa in Kontrast, wird deutlich, dass Frieden im Sinne Galtungs in Europa nur partiell besteht. Galtung definiert den hiesigen Zustand als „negativen“ Frieden. Zwar schweigen in der Europäischen Union (EU) grundsätzlich die Waffen, was sich gemeinhin in der Abwesenheit direkter, auf einen personalen Akteur zurückführbarer Gewalt äußert – jedoch ist strukturelle und kulturelle Gewalt präsent.


Strukturelle Gewalt ist nach Galtung „die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse“.³ Sie entspringt einem gesellschaftlichen System und dessen Logiken, wobei das Ergebnis ungleiche Machtverhältnisse sind.⁴ Ungleiche Machtverhältnisse sind allgegenwärtig und Produkt ungleicher Ressourcenverteilung. Wohl am augenscheinlichsten sind solche Gefälle hinsichtlich Bildung, Einkommen und Gesundheit, welche sowohl auf intra- als auch internationaler Ebene immens sind. Strukturelle Gewalt ist über solch manifeste Zustände hinaus auch latent verbreitet und findet sich beispielsweise in Gesinnungen wie Klassismus, Elitarismus, Rassismus und Sexismus. Galtung definierte den Begriff erstmals 1971 in Ergänzung zum klassischen Gewaltbegriff, der einen unmittelbaren personalen Akteur voraussetzt.


Erst wenn sowohl Gewalt direkter, als auch struktureller Art abwesend sind, kann im Sinne Galtungs von „positivem“ Frieden gesprochen werden.


Galtung verwendet darüber hinaus das Konzept der kulturellen Gewalt, die eine Legitimationsquelle für direkte und strukturelle Gewalt ist. Ihre Absenz ist jedoch kein definierendes Merkmal positiven Friedens. Diese Form der Gewalt speist sich aus Ideologien der Ungleichheit, welche im Sozialisierungsprozess entwickelt werden. So sind insbesondere chauvinistische Einstellungen Komponenten kultureller Gewalt. Chauvinismus diffundiert in eine Vielzahl gesellschaftlicher und politischer Sphären und äußert sich beispielsweise in einem Überlegenheitsgefühl hinsichtlich Religion, Sprache, Herkunft und Geschlecht.


Direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt sind interdependent und daher teilweise schwer voneinander zu differenzieren. Eine spezifische Form von Gewalt kann meist mehreren Gewaltformen zugeordnet werden. Rassismus zum Beispiel, welcher kultureller Gewalt immanent ist, kann von personalen Akteuren als vermeintliche Legitimation direkter Gewalt interpretiert werden und so wiederum in struktureller Gewalt, durch deren Festigung in Institutionen beispielsweise, verankert werden.



Idealtypen der Friedenskonzeption
Tabelle 1: Idealtypen der Friedenskonzeption (eigene Darstellung)

Zur weiteren Differenzierung des Friedenskomplexes wird Galtungs Definition von positivem Frieden an dieser Stelle weitergebildet und der Begriff des Friedens als anspruchsvollster Zustand definiert. Im Frieden ist Gewalt nicht existent, wobei unter Gewalt jegliches Handeln, dass die Integrität und Würde eines Menschen beeinträchtigt, subsumiert wird. Galtungs Definition des positiven Friedens wird demnach fortgebildet und umfasst nun unter anderem auch explizit sexualisierte und psychische Gewalt. Im Folgeschluss an die Rekonzeption des Friedensbegriffes ist das Gegenteil von Frieden demnach nicht Krieg, sondern ein Zustand, den wir als Unfrieden definieren. Unfrieden besteht, wenn zwar militärische Waffengewalt abwesend ist, nicht jedoch die Abwesenheit jeglicher Gewalt gegeben ist. Die vorgestellten Ausprägungen sind als Idealtypen zu verstehen.


Lebensrealität in der Bundesrepublik

Zoomen wir nun näher an den Planeten Pax heran und betrachten zur Veranschaulichung die Strukturen in den Ländern. Wir stellen uns Länder beziehungsweise Gemeinwesen vor, die nach dem Prinzip gleicher Rechte aller Bewohner*innen organisiert sind. Diese sorgen dafür, dass Rechte der Gleichwertigkeit auf dem Papier gesichert sind. Dies begründet sich in dem Grundprinzip der Verfassung der Länder auf Pax – dem Egalitarismus. Darunter wird eine „Sozialtheorie von der [möglichst] vollkommenen Gleichheit [...] ihrer Verwirklichung“⁵ verstanden.


Exklusivitätsproblem

Wechseln wir den Blick auf die rechtliche Grundlage der Bundesrepublik Deutschland. Dabei begegnen wir zahlreichen positiven und aussichtsreichen Artikeln, Bestimmungen, Prinzipien und Rechte, die auf den Prinzipien des Grundgesetzes der Bundesrepublik fußen. Diese Rechte gründen auf einem langen historischen Erkämpfungs- und Emanzipationsprozess; sie sind zu würdigen und keinesfalls als gegeben hinzunehmen. So prägen die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Fundamentalnorm des Grundgesetzes (GG), Rechts-, Sozial-, und Bundesstaatlichkeit, sowie Demokratie als Herrschafts- und Republik als Staatsform die Lebensrealität der Staatsbürger*innen. Hieraus ergeben sich beispielsweise die Grundsicherung der Existenz, Kranken-, Arbeitslosen-, Rentenversicherung, die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, Meinungs-, Presse-, und Versammlungsfreiheit.

Das egalitäre Grundprinzip, welches die Länder auf Pax prägt, bewirkt, dass Inklusion Exklusion substituiert. Schwenken wir den Blick auf Deutschland – wie ist die Lage dort? Zunächst ist festzuhalten, dass eine Vielzahl an rechtlichen Grundlagen lobens- und erstrebenswert sind. Daher soll betont sein, dass im Folgenden der Maßstab nicht an den Ländern der Erde angesetzt wird, sondern sich ganz bewusst an dem Planeten Pax orientiert wird, welcher den idealtypischen Frieden symbolisiert.


Bis zu einem gewissen Grad werden die genannten Aspekte in der Bundesrepublik verwirklicht, allerdings gilt dies hauptsächlich für die Mehrheitsgesellschaft, d.h. für diejenigen, die durch ihre quantitative Dominanz beziehungsweise ihre Überproportionalität, die Norm der Gesellschaft prägen und repräsentieren können. Folglich sollte die privilegierte (Lebens-)Situation der meisten deutschen beziehungsweise europäischen Bürger*innen keineswegs vernachlässigt werden.⁶ Problematisch ist jedoch, dass eine Vielzahl an Rechten Privilegien bleiben, die deutschen Staatsbürger*innen vorbehalten sind. Inklusion wird durch Privilegien verwirkt; wir diagnostizieren ein Exklusivitätsproblem. Das betrifft beispielsweise das Versammlungsrecht (Art. 8 GG) und das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden (Art. 9 GG). Des Weiteren können selbst Nicht-EU-Bürger*innen, die in der EU leben, sich nicht auf dasselbe sozialstaatliche Auffangnetz wie EU-Bürger*innen verlassen. Dies potenziert Marginalisierung enorm.


Auf dem Papier vs. Realität

Auf Pax findet sich die exakte Umsetzung des Niedergeschriebenen wieder. In der Bundesrepublik hingegen erhärtet sich die Ernüchterung über das Exklusivitätsproblem hinaus, wenn ein Abgleich von den auf Papier verrechtlichten Grundsätzen mit ihrer Einhaltung in der Realität erfolgt. An dieser Stelle ist die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter ein greifbares Beispiel. Theoretisch existiert ein dahingehendes Diskriminierungsverbot (Art. 3 GG). Es ist jedoch indiskutabel, dass in der Realität keine vollständige Gleichstellung der Geschlechter vorliegt. Hier gelagerte Defizite zeigen sich empirisch unter anderem daran, dass Frauen in Deutschland 2014 bereinigte 6% weniger Gehalt verdienen als Männer.⁷ Der unbereinigte Wert – also ohne Berücksichtigung struktureller Unterschiede wie Bildungstand und Berufsgruppe – lag in Deutschland bei 21%, in der EU 2017 „lediglich“ bei 16%.⁸ Ein weiterer Blick auf die Zahlen lässt erkennen, wo eine Hauptursache der nicht existenten Chancengleichheit zu verorten ist: Nach dem Oxfam-Ungleichheitsbericht Januar 2020 leisten Mädchen und Frauen, global gesehen und täglich, 10 Milliarden Stunden unentgeltlich Care-Arbeit. Dazu zählen Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit.⁹

Diskriminierung auf Grund des Geschlechtes zeigt sich in vielfältigen Bereichen. So auch hinsichtlich dessen, dass Recht und Medizin die freie und selbstbestimmte Geschlechtsidentität von Inter*-Personen eingrenzen und infrage stellen, was wiederum Diskriminierung bis hin zur Herabwürdigung ihnen gegenüber reproduziert.¹⁰ ¹¹ ¹²

Den genannten lobenswerten und anzuerkennenden Grundprinzipien der Bundesrepublik stehen somit zum einen ein Exklusivitätsproblem und zum anderen eine desillusionierende Diskrepanz von Gesetz und Realität entgegen. Im Zuge dessen werden sie in ihrer Wirksamkeit geschmälert.


Voraussetzungen des positiven Friedens

Die erste Prämisse positiven Friedens ist negativer Frieden. Denn ohne die Abwesenheit von direkter (Militär-)Gewalt kann positiver Frieden nicht existieren. Aus dem Egalitarismus auf Pax ergibt sich gegenseitige Anerkennung, wodurch keine Notwendigkeit zur Bekämpfung durch physische Gewaltanwendung besteht.


Die Europäische Union gilt als Garant des Friedens, 2012 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Im zweiten Weltkrieg starben nach Daten der EU-Kommission über 55 Millionen Menschen, während heutzutage knapp eine halbe Milliarde EU-Bürger*innen in Abwesenheit militärischer Gewalt und in diesem Sinne negativ friedlich leben. Allerdings zeigt sich hierbei abermals das zuvor diagnostizierte Exklusivitätsproblem. So verblasst die Präsenz des negativen Friedens an den europäischen Außengrenzen: Die Europäische Union antizipiert im Jahr 2021 beispielsweise für die sogenannte „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex” ein Budget von 1,6 Milliarden Euro.¹³ Fraglich sind diese Investitionen allemal: 2019 deckten Journalisten des ARD-Magazins report München, der britischen Tageszeitung The Guardian und dem Recherchezentrum Correctiv¹⁴ „Gewaltexzesse”¹⁵ an den Grenzen Europas auf, welche von Frontex ausgingen oder auf deren Duldung fußten.


Exemplarisch wird der Blick im Folgenden auf Deutschland gerichtet. Trotz der Abwesenheit militärischer Gewalt in der Bundesrepublik muss bei der Beurteilung des ersten Kriteriums die geografische Verlagerung und Externalisierung von Gewalt bedacht werden. So belegt Deutschland den vierten Platz der größten Waffen- und Rüstungsexporteure weltweit. Jährlich verdient sich die Bundesrepublik durch dieses Geschäft mehrere Milliarden Euro. Darüber hinaus ist die Bundeswehr an internationalen Einsätzen beteiligt, wobei ca. 4000 Bundeswehrsoldat*innen in 12 Ländern stationiert sind (Stand Februar 2020).¹⁶ Auch der in diesem Artikel vorgestellte Fall von direkter Gewalt gegenüber Oury Jalloh, ist als Angriff auf die generelle Präsenz negativen Friedens in der Bundesrepublik zu verstehen.


Es ist festzuhalten, dass in der EU, somit auch in Deutschland, ein rudimentärer negativer Frieden existiert. Das maßgebende Defizit ist die Exklusivität dieser Friedensform. So können Personen im Strafvollzug Opfer direkter Gewalt werden. Weiterführend liegt negativer Frieden insbesondere im Binnenland der EU vor. In einigen Grenzgebieten jedoch, insbesondere an den südeuropäischen Außengrenzen, wird dieser durch Gewaltausübung gegenüber geflüchteten Personen herausgefordert.



Planet Pax
Planet Pax (Darstellung: Anna Uth)

Die zweite Prämisse positiven Friedens ist die allgemeine Anerkennung der Werte Gerechtigkeit, Solidarität, Respekt und Konfliktfreiheit. Diesen auf Pax vorherrschenden Wertekonsens benötigt eine Gesellschaft, um positiven Frieden konstituieren und im Folgeschritt konservieren zu können. In anderen Worten: Nur eine solche Mentalität wird einen nachhaltigen positiven Frieden sichern können. Ohne die skizzierte rechtliche Grundlage der Bundesrepublik wäre der Weg zum positiven Frieden weitaus steiniger, da dieser mit der Verankerung von Prinzipien wie Anerkennung, Fürsorglichkeit und auch Gerechtigkeit eine normative Richtung vorgibt. Inwieweit diese Werte generell jedoch mit der derzeitigen politischen und ökonomischen Ausrichtung konform gehen können oder inwiefern dies utopisch ist, bleibt fraglich.


Wenn also negativer Frieden besteht und die genannten Werte den Diskurs ebnen, ist positiver Frieden zugegen. Es stellt sich also die Frage, warum gemeinhin angenommen wird, in Europa existiere Frieden? Zweifelsohne ist dies eine Frage der Definition, insbesondere eine Frage nach dem Grad des Anspruches an den Friedensbegriff. Nichtsdestominder hält sich der Mythos vom friedfertigen, gerechten und fortschrittlichen Europa beständig. Doch insbesondere mit kritischem Blick auf die Geschichte Europas und auf dessen (gegenwärtige) Außenpolitik zerfällt dieser Mythos. Der ausgeprägte Fokus des globalen Nordens auf dort gelingende, positive Aspekte und die Verherrlichung Europas kumulieren im Eurozentrismus.


Eurozentrismus als Barriere für Optimierung

Im eurozentristischen Denken ist die europäische Kultur der omnipotente Bewertungsmaßstab. Es wird eine ideologische Bewertung vorgenommen, die jedwede Gesellschaft in ihrer Güte nach europäischen Werten beurteilt. Aus diesem Denken heraus werden eurozentristische Kriterien gebildet, Überzeugungen gefestigt und Normen verinnerlicht. Dieser eurozentristische Blick auf die Welt ist spätestens seit der Kolonialzeit gefestigt. Der Begriff Eurozentrismus bezieht sich allerdings nicht nur auf das geografische Europa, sondern auf den gesamten globalen Norden. Dieser umfasst neben Europa alle neoeuropäischen Staaten, so unter anderem Australien, Kanada und die USA. Aus Gründen der Simplizität wird an dieser Stelle eine grundsätzliche und somit allgemein ausgedrückte Form des Eurozentrismus skizziert. Darüber hinausgehende Schattierungen des Eurozentrismus existieren gewiss in den verschiedensten Ausprägungen.


Denken und Handeln in Ausrichtung an Eurozentrismus wird im Folgenden als Barriere für Optimierung interpretiert. Durch das Berufen auf vermeintlich durchgehend perfektionierte Systeme (Neo-)Europas entsteht eine Betriebsblindheit, welche Fortschritte hemmt. Probleme des globalen Nordens werden systematisch verkannt, ignoriert und mit Verweis auf vermeintlich gravierendere Probleme in anderen Regionen der Welt abgetan.


So verhält es sich beispielsweise im Bereich Bildung. Der jüngste OECD-Bericht „Chancengleichheit in der Bildung: Abbau von Hindernissen für soziale Mobilität“ aus dem Jahr 2019 zeigt, dass es keinen OECD-Staat gibt, in dem der soziale Hintergrund nicht mit dem Bildungserfolg korreliert.¹⁷ Für die Möglichkeit von Kindern, einen Abschluss des tertiären Bildungsbereiches zu erzielen, ist das Bildungsniveau ihrer Eltern somit nach wie vor ausschlaggebend. In Deutschland zeigt sich dies in der Quote von lediglich 28 von 100 Kindern aus nicht akademischen Familien, die ein Hochschulstudium beginnen.¹⁸ Im Gegensatz dazu, liegt die Anzahl von Kindern aus akademischen Familien, die ein Hochschulstudium beginnen, deutlich höher. Von ihnen starten 79 von 100 ein Studium. Diese schichtspezifischen Bildungsungleichheiten reproduzieren sich und überdauern langfristig die Generationen.


Ein eurozentristisches Weltbild erlaubt es, von Problemen vor der eigenen Haustür und ihrer drängenden Bewältigung abzulenken und somit den Fokus zu verschieben. Die eurozentristische Argumentationstechnik bedient sich häufig der Gesprächstechnik „Whataboutism“, wobei bei der Betrachtung eines hiesigen Missstandes eine Fokusverschiebung zu vermeintlich negativeren Beispielen erfolgt. Dies ist fatal, wenn es etwa darum geht, Probleme des Bildungssektors, wie die Abhängigkeit des Bildungsabschlusses der Kinder von deren Elternhaus, zu thematisieren und anzugehen. Folglich ist Eurozentrismus eine Barriere, die tendenziell zu einer Stagnation der Entwicklung weg von struktureller Ungleichheit und hin zu negativem Frieden führt.


 

Hier weiterlesen: Gegen den Mythos – Teil 2: Strafvollzug in Deutschland

 

Quellen und Anmerkungen:

1 Vgl. Senghaas, Dieter (1971): Kritische Friedensforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

2 Vgl. ebd.

3 Vgl. ebd. S. 12.

4 Vgl. Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt, Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek: Verlag für Sozialwissenschaften.

5 Duden (2020): Egalitarismus. https://www.duden.de/rechtschreibung/Egalitarismus. Abgerufen am 29.02.2020.

6 Uns ist bewusst, dass es auch in Deutschland bzw. Europa viele Menschen gibt, deren Lebensstandards bei Weitem nicht dem entsprechen, was wir im Sinne der Simplizität als durchschnittlichen europäischen Lebensstandard verallgemeinern.

7 Vgl. Destatis (2017): Pressemitteilung Nr. 094 vom 14. März 2017. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2017/03/PD17_094_621.html. Abgerufen am 29.02.2020.

8 Vgl. Eurostat (2020): Gender Pay Gap Statistics. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Gender_pay_gap_statistics. Abgerufen am 27.02.2020.

9 Vgl. Coffey, Claire; Espinoza Revollo, Patricia; et al. (2020): Time to care. Unpaid and underpaid carework and the global inequality crisis. Oxford: Oxfam GB for Oxfam International.

10 Vgl. Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (2013): Parallelbericht zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (CAT). https://hlcmr.de/wp-content/uploads/2014/12/Working_Paper_Nr.1.pdf. Abgerufen am 20.02.2020.

11 Vgl. Fütty, Tamás J. (2019): Gender und Biopolitik. Normative und intersektionale Gewalt gegen Trans*Menschen. Bielefeld: transcript QueerStudies.

12 Vgl. Intersexuelle Menschen e.V. (2019): Forderungen. https://www.im-ev.de/forderungen/. Abgerufen am 24.02.2020.

13 Vgl. Nau, Niklas; Tillack, Anna (2020): Frontex – Eine EU-Agentur und der Umgang mit den Menschenrechten. https://www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/videos-und-manuskripte/frontex-eu-menschenrechtsverletzungen-102.html. Abgerufen am 24.02.2020.

14 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Rüstungsexportbericht. Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im ersten Halbjahr 2019. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Aussenwirtschaft/ruestungsexport-zwischenbericht-2019.pdf?__blob=publicationFile&v=10. Abgerufen am 24.02.2020.

15 Österreichischer Rundfunk (2019): Bericht: Frontex duldet Gewaltexzesse an EU-Außengrenzen: https://orf.at/stories/3132642/. Abgerufen am 24.02.2020.

16 Vgl. Bundeswehr (2020): Aktuelle Einsätze der Bundeswehr. https://www.bundeswehr.de/de/einsaetze-bundeswehr. Abgerufen am 29.02.2020.

17 Vgl. OECD (2019): Bildung auf einen Blick 2019. https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/6001821mw.pdf?expires=1580392898&id=id&accname=oid011384&checksum=BB34BB8ADBA2EEE41A206A49C3D309E4. Abgerufen am 29.02.2020.

18 Vgl. Kracke, Nancy; Middendorff, Elke; et al. (2018): Bildungstrichter: Die Aufnahme eines Hochschulstudiums hängt stark von der Bildung der Eltern ab. DZHW Brief 3/2018. Hannover: DZHW.


Weiterführende Literatur zur Friedensforschung Galtungs:

– PRIO (2020): Peace Research Institute Oslo. https://www.prio.org. Abgerufen am 01.03.2020.

– Galtung, Johan (1997): Frieden mit friedlichen Mitteln: Frieden und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich.

– Galtung, Johan; Fischer, Dietrich (2013): Johan Galtung. Pioneer of Peace Research. Heidelberg/ New York/ Dordrecht/ London: Springer.

– Menzel, Ulrich (Hrsg.) (2000): Vom Ewigen Frieden und vom Wohlstand der Nationen: Dieter Senghaas zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

– Frieters-Reermann, Norbert (2009): Frieden lernen. Friedens- und Konfliktpädagogik aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive. Duisburg/ Köln: Verlag für Wissenschaft und Kultur.


Weiterführende Literatur zu Geschlechtergerechtigkeit:

– Heinz-Böckler-Stiftung (2019): Gender Pay Gap 2006-2018. https://www.boeckler.de/52854.htm#. Abgerufen am 24.02.2020.

– Holzleithner, Elisabeth (2016): Gerechtigkeit und Geschlechterrollen. In: RphZ Rechtsphilosophie. Jahrgang 2, Heft 2, S. 133-151.

– Koyama, Emi; Weasel, Lisa (2003): Von der sozialen Konstruktion zu sozialer Gerechtigkeit. Wie wir unsere Lehre zu Intersex verändern. https://www.pdcnet.org/philosophin/content/philosophin_2003_0014_0028_0079_0089. Abgerufen am 24.02.2020.

– Schmidt, Friederike; Schondelmayer, Anne-Christin; et al. (2015): Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Wiesbaden: Springer VS.

– Strunk, Guido; Hermann, Anett (2009): Berufliche Chancengleichheit von Frauen und Männern. Eine empirische Untersuchung zum Gender Pay Gap. In: German Journal of Human Resource Management, 23(3), S. 237–257. https://doi.org/10.1177/239700220902300304. Abgerufen am 24.02.2020.

– Hamm, Jonas A.; Sauer, Arn Thorben (2014): Perspektivenwechsel: Vorschläge für eine menschenrechts- und bedürfnisorientierte Trans*-Gesundheitsversorgung. New York: Georg Thieme Verlag KG.


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Gegen den Mythos: Warum es in Europa keinen Frieden gibt – Teil 1

Von Sarah Hegazy und Nora Wacker
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