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Aktualisiert: 17. Aug. 2021

Eine Dekonstruktion der europäischen Glorifizierung anhand der Friedenstheorie Johan Galtungs und gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Aktivismus
 

Lies Teil 1 über das Friedenskonzept von Johan Galtung, Ungerechtigkeiten in Deutschland und Europa wie zum Beispiel im Fall der Geschlechtergleichstellung und zur Problematik des Eurozentrismus hier: Gegen den Mythos: Warum es in Europa keinen Frieden gibt – Teil 1

 

Gewaltsame Strukturen und strukturelle Gewalt

Inwieweit ist Gewalt Strukturen inhärent? Das folgende Beispiel wird exemplarisch für Gewalt in Strukturen herangezogen. Das Berliner Landeskriminalamt (LKA) führt ein Register, welches basierend auf §14 VereinsG¹ sogenannte „Ausländervereine“ kategorisiert. Die „Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V.“ (KuB) sollte als ein solcher Verein eingestuft werden. Diese Entscheidung des LKAs basierte lediglich auf der Annahme, die Namen der Vorstandsmitglieder klängen vermeintlich fremd. Johanna Schneider, Mitarbeiterin der KuB, bringt Kritik gegen die Behörde vor:

„Die Kategorisierung von Menschen in „Deutsche“ und „Ausländer“ aufgrund ihrer Namen ist purer Rassismus.“²

Nach Galtung ist eine solche Differenzierung von Vereinen ein Produkt einer vermeintlichen Legitimierung rassifizierender Denkweisen durch kulturelle Gewalt. Ausländervereine erfahren konkrete Nachteile, sodass sie vergleichsweise einfach verboten werden können und strengeren Auskunfts- und Anzeigepflichten unterliegen als andere Vereine. Somit ist dies ein Präzedenzfall struktureller Gewalt, welcher in Institutionen verankert, ungleiche Machtverhältnisse produziert.


Inwieweit ist strukturelle Gewalt existent? Exemplarisch ist diese Frage am Strafvollzug in der Bundesrepublik zu betrachten. Jens Puschke ist Rechtswissenschaftler mit den Forschungsschwerpunkten Strafvollzug und Strafvollstreckung und Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Medizinstrafrecht an der Universität Marburg. Puschke kontextualisiert den Strafvollzug in der Bundesrepublik und gibt diesbezüglich einen Ausblick auf die Rolle der Zivilgesellschaft.³


Wie bewerten Sie den aktuellen Stand und die Erfüllung der Anforderungen des Strafvollzuges (und weiterer freiheitsentziehender Maßnahmen) in Deutschland?

„Der Strafvollzug in Deutschland hat nach wie vor Licht- und Schattenseiten. […] Derzeit befinden sich 56 655 Personen im geschlossenen Strafvollzug, darunter 13 586 Personen in Untersuchungshaft sowie 568 Sicherungsverwahrte. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland im unteren Bereich, was das Verhältnis von Strafgefangenen auf die Einwohnerzahl betrifft. Spitzenreiter sind hierbei die USA und Russland, Vorreiter mit der niedrigsten Gefangenenquote sind traditionell die skandinavischen Länder. […] Grundsätzlich wird hierzulande, wie es auch in anderen Ländern zu beobachten ist, seit den letzten Jahren wieder ein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit und Punitivität [Anm. d. Verf.: Strafbedürfnis] deutlich, was sowohl im gesellschaftlichen als auch politischen Diskurs vorherrscht. Zu nennende Beispiele hierfür sind etwa die erfolgten Verschärfungen der Straftatbestände im Strafgesetzbuch, die entweder neu eingeführt, deren Strafrahmen erhöht oder bei denen der Anknüpfungspunkt für eine Strafbarkeit weit vorverlagert wurde, wie es vornehmlich in den Bereichen Terrorismus-, Sexual- und Wirtschaftsstrafrecht geschehen ist.

Zu kritisieren im Feld des Strafvollzugs sind vor allem aber nach wie vor die großen regionalen Unterschiede im Umgang mit Kriminalität allgemein und der Verhängung von unbedingten Freiheitsstrafen im Speziellen. Während im Jahre 2018 im Bundesdurchschnitt 5,21 % aller Verurteilungen auf unbedingte Freiheitsstrafen lauten, schwanken die Zahlen von 7,08 % in Bayern und 2,96 % in Bremen und 3,01 % in Brandenburg. Schon lange stößt diese divergierende gerichtliche Praxis in den einzelnen Bundesländern auf rechtsstaatlichen Widerspruch, ohne dass bisher eine passende Lösung gefunden wurde. Ebenso herrscht seit jeher ein grundsätzlicher Streit darüber, wozu Strafvollzug als solcher überhaupt dienen soll. Zum einen soll hierdurch die Gesellschaft vor weiteren Straftatbegehungen durch die Inhaftierten beschützt werden. [...]. Zum anderen soll jedoch vor allem umfassende Resozialisierungsarbeit geleistet werden, um die Straffälligen nach Verbüßung der Haftstrafe bestmöglich in ein zukünftiges Leben in Straffreiheit vorzubereiten. Die Zahlen zu Rückfallquoten zeichnen hier jedoch ein anderes Bild: So weist die vollstreckte Freiheitsstrafe nach wie vor die höchste Rückfallquote auf mit 45 %, im Vergleich etwa zur Geldstrafe mit 30 %. Insbesondere in den Bereichen der Sozialtherapie, psychologischen Betreuung, Arbeitsplatzvermittlung, Schuldentilgung, Behandlung von Suchtproblematiken und Suche nach einer festen Bleibe bereits aus dem Vollzug heraus besteht daher großer Nachhol- und Verbesserungsbedarf.“


Ab wann werden einzelne Defizite des Rechtsstaates zu einem strukturellen Problem?

„Rechtsstaatliche Defizite stellen bei ihrer Entstehung und weiteren Ausprägung immer eine mögliche Gefahr für die Struktur unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft dar. Neben den oben genannten Beispielen auf Ebene des Strafgesetzbuchs können als weitere allgemeine Beispiele die Ausweitungstendenzen im Rahmen der Überwachungsmaßnahmen nach der Strafprozessordnung und dem Strafgesetzbuch (etwa zur Führungsaufsicht nach Haftentlassung) genannt werden. Eine derartige Ausweitung von eingriffsintensiven Maßnahmen und einem sich so etablierenden Sicherungs- und Überwachungsstaat ohne rechtfertigenden Grund oder ausreichenden Anlass sind im ersten Angriff abzuwehren, um einen funktionierenden Rechtsstaat aufrechtzuerhalten. Hier gilt es dem befürchteten „Dammbruch“ frühestmöglich entgegenzutreten. Dem Staat kommt vielmehr zunächst eine unterstützende Rolle zu: Er soll es den Bürgern und Bürgerinnen ermöglichen, ihre Grundrechte bestmöglich und frei ausleben zu können, und zwar möglichst ohne hindernde staatliche Intervention. Auch im Strafvollzug gilt es, die Grundrechte der Betroffenen stets zu wahren. Hier erhält der Staat zwar auch eine Rolle als Beschützer der übrigen Gesellschaftsmitglieder vor (weiteren) Rechtsgutsverletzungen und fungiert als Wahrer der Rechtsordnung. Durch seine erhöhten Eingriffsbefugnisse in die Rechte der Straffälligen kommt ihm aber gleichzeitig eine besonders große Pflicht zur Rücksichtnahme und Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu.

Bedenklich ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Praxis der sogenannten Abschiebungshaft. Nach § 62 AufenthG besteht die Möglichkeit, ausreisepflichtige ausländische Personen zum Zwecke der Durchsetzung ihrer Ausreise zu inhaftieren. Die Grenzen ihrer Anwendung sowie die Unterbringungsmöglichkeiten wurden im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise seit 2015 stetig ausgeweitet. Dabei ist die Anwendung der Haft in den dortigen Fällen überaus kritisch zu sehen und wirft rechtsstaatliche Bedenken auf, insbesondere in Konstellationen mit überlanger Dauer der Inhaftierung.“


Sie beschreiben in Ihrem Buch „Strafvollzug in Deutschland – Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen“ Schwächen des deutschen Rechtssystems und die Notwendigkeit einer Reform dessen. Wie sollte eine solche Reform vollzogen werden?

„Erfreulich zu bewerten sind in den vergangenen Jahren die Entwicklungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Diese wurde nach der Einführung in 2008 im Jahre 2013 wieder abgeschafft. Im Umgang mit erwachsenen Straftätern und Straftäterinnen ist aber nach wie vor die Praxis der vorbehaltenen und nachträglichen Sicherungsverwahrung bedenklich und stand nicht umsonst im rechtlichen Streitfokus auf bundes- und europarechtlicher Ebene.“


Welche Rolle sollte zivilgesellschaftliches Engagement dabei und auch grundsätzlich im Kontext der Rechtsstaatlichkeit des Strafvollzuges einnehmen?

„Durch zivilgesellschaftliches Engagement können durchaus politische und gesetzgeberische Motoren in Gang gesetzt werden. Dies geschieht derzeit jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung, fort von Milderungs- und Entkriminalisierungstendenzen hin zu mehr Sanktionsbedürfnissen. In der Gesellschaft lebt heute eine punitive Stimmung und Art der Straflust auf, in der sich Politik und Medien gegenseitig befeuern. Kriminalitätsfurcht und Vergeltungsbedürfnisse stehen einer erfolgreichen Prävention dabei im Wege. Stattdessen muss von allen Akteuren erkannt werden, dass eine erfolgreiche und umfassende Resozialisierungsarbeit im Rahmen des Strafvollzugs das effektivste Mittel zur Kriminalitätsverhinderung und Schutz der Allgemeinheit darstellen kann unter zugleich menschenwürdigem Umgang mit Strafgefangenen, der nicht nur wünschenswert, sondern auch rechtsstaatlich erforderlich ist. Die zum Teil entgegengesetzten Zielvorgaben von Sicherheit und Kontrolle auf der einen und Resozialisierung auf der anderen Seite (dies betrifft auch die Rolle der Führungsaufsicht) sind zugunsten der Resozialisierung zu priorisieren.“


Erste Assoziationen mit dem deutschen Strafvollzug sind häufig positiver als die Assoziationen mit dem anderer Länder, wie beispielsweise der USA. Ist das berechtigt oder werden die hiesigen Probleme verkannt?

„Dass die Assoziationen mit dem deutschen Strafvollzug aus gesellschaftlicher Perspektive positiver ausfallen als solche mit etwaigen Gegenbeispielen, wie etwa in manchen mittel- und südamerikanischen, asiatischen Vollzugsanstalten oder – wie von Ihnen bereits genannt – Strafvollzugsanstalten in den USA, ließe sich im ersten Ansatz so wohl bestätigen. Grund dafür ist vorrangig die mediale Darstellung der auswärtigen Strafvollzugssysteme, die oft sehr düster und negativ ausfällt. Es wird ein Bild gezeichnet von einem Vorherrschen von Gewalt, Drogenkonsum, Gangkriminalität, Korruption und weiteren rechtsstaatlich unhaltbaren Methoden wie unmenschlichen, entwürdigenden Sanktionen. Auch hier gilt es aber, wie auch bei vielen anderen Themen, die Darstellung durch die Medien kritisch zu betrachten und eine emotional weniger aufgeladene Herangehensweise an die Thematik zu gewinnen, um ein realistisches Bild der Vollzugswirklichkeit abzeichnen zu können.

Wenngleich die Probleme des Strafvollzugs hierzulande in schwächerer Form vorliegen mögen, insbesondere, was Gangkriminalität und Korruption anbelangt, so können auch hier insbesondere die Fälle von Gewalt unter Inhaftierten, Suizidraten und Drogenkonsum mit Suchtproblematiken nicht ausgeblendet werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als sei mit dem Strafvollzug in Deutschland alles in bester Ordnung, nur, weil es in anderen Ländern scheinbar schlechter um ihn stünde. Gänzliche Schwarzmalerei will ich jedoch auch hier nicht betreiben. Es gilt, die negativen Vollzugseffekte weiter eng in den Blick zu nehmen und stetig an deren Verhinderung und Abmilderung zu arbeiten, aber gleichzeitig auch die positiven Effekte und Möglichkeiten der Resozialisierung zu betrachten und anzuerkennen. Es muss stets berücksichtigt werden, dass das Strafrecht und als dessen härtestes Mittel die vollstreckte Freiheitsstrafe im Strafvollzug das stärkste und einschneidendste staatliche Mittel darstellt und deshalb nur sehr restriktiv zur Anwendung kommen darf. Nicht zuletzt die negativen Statistiken zu Rückfallquoten sprechen jedoch nach wie vor für ein Erfordernis des Umdenkens im Strafvollzug und eines Ausbaus und Voranbringens der resozialisierenden Maßnahmen sowie einer besseren sozialrechtlichen Präventionsarbeit.“


Rechtsstaatliche Defizite stellen eine Gefahr für die Abwesenheit struktureller Gewalt dar und verhindern als Konsequenz die Etablierung positiven Friedens. Jene Defizite müssen als reales Problem erkannt und angegangen werden. Geschieht dies nicht, verhindern rechtsstaatliche Defizite einen sukzessiven Friedensaufbau weiterhin.

Strukturelle Gewalt ist ein ernst zu nehmendes Problem, von grundsätzlich gewaltsamen Strukturen kann jedoch nicht gesprochen werden. Formieren sich gewaltvolle Strukturen, gilt es, konsequent einzugreifen und die Rechtsstaatlichkeit zu stärken.


Wenn strukturelle Gewalt in direkter Gewalt mündet

In Strukturen verankerte rechtsstaatliche Defizite können sich in direkte Gewalt übersetzen. Dies kann sich unter anderem in Polizeigewalt äußern. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum vermutet jährlich mindestens 12 000 rechtswidrige – also unverhältnismäßig harte – Übergriffe von Polizeibeamt*innen.⁴ Die Studie resümiert die Einschätzung, dass das gesamte Dunkelfeld im Bereich rechtswidriger Gewaltausübung durch Polizeibeamt*innen mindestens fünfmal so groß ist wie das Hellfeld, das der Statistik zu entnehmen ist.


Wir führten ein Gespräch mit der Aktivistin Nadine Saeed⁶, um einen Todesfall zu beleuchten, bei dem sich strukturelle Gewalt in direkte Gewalt übersetzt hat. Es geht um Oury Jalloh. Jalloh wurde 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau mutmaßlich von Polizeibeamt*innen ermordet.⁷ Die genauen Todesumstände sind bis heute nicht geklärt. Jalloh wurde auf einer schwer entflammbaren Matratze fixiert, Stunden später fand man seine Leiche verbrannt auf. Ein forensisches Gutachten des Radiologie-Professors der Universitätsklinik Frankfurt und Rechtsmediziners Boris Bodelle ergab, dass Jalloh vor dem Todeseintritt erhebliche körperliche Misshandlungen zugefügt wurden.⁸


Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh „Break the Silence“ engagiert sich für die vollständige Aufklärung eines „der größten Justizskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte“ und „größte[n] Justizskandal[s] der bundesrepublikanischen Geschichte“⁹. Mittlerweile befindet sich der Fall von Oury Jalloh vor dem Bundesverfassungsgericht. Saeed ist eine der Sprecher*innen der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh.



Wie engagiert sich die Initiative „Break the Silence“?

„Die Initiative engagiert sich in verschiedenen Formen. Zum einen ist das ein Protest gegen den Nicht-Aufklärungswillen der Behörden. Also Protest auf der Straße, wie Mahnwachen und Kundgebungen. Am 7. Januar, dem Todestag [von Oury Jalloh] zum Beispiel, aber auch begleitend zu Prozessen oder wenn Entscheidungen diesbezüglich getroffen werden. Zum anderen ermitteln wir selbst und betreiben Aufklärungsarbeit. 2005 haben wir ein eigenes erstes Gutachten, eine zweite Autopsie des Leichnams, in Auftrag gegeben, da bei der ersten Autopsie Röntgenaufnahmen verweigert wurden. Dann haben wir 2013 ein eigenes Brandgutachten anfertigen lassen; 2015 haben wir nochmal ein Gutachten von internationalen Experten erstellen lassen. Und dann haben wir zum Beispiel auch eine internationale Kommission gegründet, die mit uns zusammen den Fall aufklärt. Wir übernehmen sozusagen die Ermittlungsarbeit, die die Polizei und die Staatsanwaltschaft eigentlich betreiben sollten, dies aber nicht tun.“


Habt ihr konkrete Forderungen, die ihr öffentlich kundtut?

„Wir haben lange und immer wieder in unsere Pressemitteilungen geschrieben, dass wir vom Staat, insbesondere der Justiz, Aufklärung und Gerechtigkeit fordern. Doch aus unseren Erfahrungen mussten wir feststellen, dass sie das nicht machen wollen, also vorsätzlich nicht. Also haben wir uns gefragt: Wieso sollen wir was von denen fordern? Wir fordern nichts vom Staat und dessen Institutionen, vielmehr richten sich die Forderungen an die Zivilgesellschaft und auch an uns. Wir fordern die Zivilgesellschaft auf, sich solidarisch zu zeigen. Dieser Teil der Gesellschaft muss das Schweigen brechen, damit der Skandal tatsächlich auch wie ein Skandal behandelt und skandalisiert wird. Und von uns fordern wir, dass wir das tun, was wir tun: Den Protest und die Ermittlungsarbeit. Von den Medien fordern wir auch noch etwas: Wir fordern sie auf, ihrer Pflicht nachzukommen. Über die Wahrheit zu berichten und nicht einfach Sachen ungefragt zu übernehmen, die von der Polizei, Staatsanwaltschaft oder anderen staatlichen Behörden veröffentlicht werden.“


Habt ihr das Gefühl, dass es eine breite Akzeptanz für euer Anliegen in der Gesellschaft gibt und die Mehrheitsgesellschaft hinter euch steht?

Naja, sagen wir mal so, es war ein ziemlich langer Kampf. Also wir sind durch den Staat kriminalisiert, genauer, von der Polizei und der Staatsanwaltschaft in Sachsen-Anhalt. Durch die Kriminalisierung unserer Gruppe und Arbeit hat man versucht, uns für die Medien unglaubwürdig zu machen. Dagegen mussten wir ankämpfen, in dem wir angefangen haben, Fakten zu recherchieren und zu erfassen, zum Beispiel in Form von Pressekonferenzen und Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit. Dadurch haben wir immer mehr Gehör gefunden und dann haben die Medien angefangen, uns ernst zu nehmen. Durch die Gutachten 2015 wurde das noch verstärkt, dadurch, dass das auch in der Tagesschau erwähnt wurde. Zurzeit kommen konstant Medien auf uns zu, wenn wir neue Fakten veröffentlichen. Dieser Weg hat viel Kraft gekostet und viel eigene Faktenrecherche und Gutachten verlangt. All das hat uns aber dazu verholfen, ernst genommen zu werden. Aber letztlich ist es immer noch so, dass die breite Masse der Bevölkerung Deutschlands uns nicht für voll nimmt oder, dass wir noch nicht an sie rangekommen sind. Trotzdem können wir immer mehr Menschen die Augen öffnen. In den letzten Jahren werden wir immer mehr, das seht ihr zum Beispiel an der Petition die Mouctar [Bah, Anm. d. Verf.] von der Initiative, ins Leben gerufen hat. Da haben mittlerweile 153.000 Menschen unterschrieben. Auch an den Spenden, die zum großen Teil von Privatpersonen kommen, sehen wir, dass die Unterstützung immer weiter zunimmt: Je mehr wir tun und je mehr rauskommt, umso mehr vertrauen uns die Leute und versuchen, das auf finanziellem Wege zu unterstützen.“


Da du sagst, dass die Unterstützung der Zivilgesellschaft tendenziell zunimmt: Wie sind eure Erfahrungen mit staatlichen Institutionen und Organen? Hast du da ebenfalls das Gefühl, dass dies eine positive Entwicklung nimmt?

„Nein, auf politischer Ebene leider nicht. Zuletzt wurde im Landtag von Sachsen-Anhalt von der Partei Die Linke ein Antrag auf einen Untersuchungsausschuss eingereicht. Aber die Regierungskoalition aus CDU, SPD und Bündnis 90/ Die Grünen hat sich der Stimme enthalten und die AfD hat den Antrag abgelehnt – so wurde er halt komplett abgewiesen. Dann wurden zwei Sonderberater eingesetzt, die jedoch nicht eigenständig ermitteln, sondern für die politische Seite beratend tätig werden. Unserer Meinung nach hätte es angesichts der Faktenlage natürlich einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geben müssen. Da sehen wir eigentlich in allen staatlichen Gewalten, dass sie eben nicht an einer Aufklärung interessiert sind, sondern im Gegenteil versuchen, das unter den Teppich zu kehren.“


Die ersten Assoziationen, die viele mit rassistischer Polizeigewalt, Justizversagen, und vorsätzlichem Verschweigen haben, sind Länder wie beispielsweise die USA. Hast du das Gefühl, dass Europa beziehungsweise Deutschland vielleicht überschätzt oder gar glorifiziert werden, wenn es um Rassismus und die Gleichbehandlung aller geht?

„Genau, es ist wichtig zu verstehen, dass es eben kein länderspezifisches oder nationales Problem ist, sondern ein internationales und europaweites Problem. Im Oktober haben wir ein Treffen mit vielen Gruppen aus Großbritannien, Frankreich, Türkei, Österreich und Italien organisiert. Diese arbeiten wie wir zu rassistischer Polizeigewalt, beziehungsweise versuchen Polizeimorde aufzuklären. Diese Treffen haben wir organisiert, um uns zu fragen: Wo liegen die ­Parallelen? Wie ist das alles strukturiert? Dabei stellten wir fest, dass es in den Ländern ähnlich abläuft: Grundsätzlich werden Polizeibeamte, die Menschen aus rassistischer Motivation umbringen, am Ende nicht vor Gericht gestellt. Meistens bleiben sie sogar im Polizeidienst tätig. Die Verbrechen werden also nie aufgeklärt und die Täter nicht bestraft. Wenn wir tiefer reingehen, sehen wir, wie Vertuschungsmechanismen fast überall gleich ablaufen: Das fängt bei den medizinischen Gutachtern an, die Gefälligkeitsgutachten schreiben und so weiter. Deswegen können wir festhalten, dass Gewalt gegen Menschen durch staatliche Organe stattfinden kann, ohne das etwas passiert. Menschen, insbesondere Polizisten, können hier folgenlos aus rassistischen Motiven morden. Das nimmt sich nichts, die Einstellung ist da ziemlich gleich. In Deutschland werden immer mehr Menschen ermordet, letztes Jahr waren es mindestens drei Personen, von denen wir wissen, dass sie umgebracht wurden. In Frankreich werden im Jahr ungefähr 20 Leute von Polizisten umgebracht. In Großbritannien ist es ähnlich. Von daher würde ich einen Vergleich nicht anhand der Opferzahl festmachen, sondern anhand der Fragen: Wie gehen die Staaten damit um? Welche Signale senden sie aus? Und zwar: Ihr könnt einfach morden, Menschen verbrennen, Menschen ersticken, Menschen erschießen und es wird nichts passieren. Die Gerichte und der Staat schützen euch. Das ist sowohl in Europa als auch in Nordamerika genau das Gleiche.“


Bei der Recherche haben wir gelesen, dass ihr vom „Staatsschutz mit Strafanzeigen überhäuft und als kriminelle Gewalttäter dargestellt“¹⁰ werdet. Wie erfahrt ihr das, beziehungsweise wie ist der Umgang von offizieller Seite mit euch?

„Das ist besonders seit einer Demonstration 2012 in Dessau ein Thema. Diese wurde von der Polizei gewalttätig angegangen, wobei dies nachweislich rechtswidrig war. Der Polizeipräsident und sein Berater wurden anschließend auch versetzt. Seitdem hat der Staatsschutz Anzeigen gegen einzelne Personen von uns massiv verstärkt. Ich hatte zum Beispiel ein Gerichtsverfahren in Sachsen-Anhalt wegen Verleumdung, weil Polizisten meinten, ich hätte sie während einer Demonstration angeguckt und gesagt, dass sie Mörder seien; sie hätten sich persönlich in ihrer Ehre gekränkt gefühlt. Das geht dann so weiter, bis hin zur Sprengung einer Versammlung, weil wir ihrer Meinung nach eine Versammlung gestört hätten, bei der staatliche Vertreter vor dem Polizeirevier dem ‚tragischen Unglück‘ gedacht haben und sich durch uns verheuchelt fühlten.

Auf jeden Fall konstruieren sie Anzeigen gegen uns, um uns dann vor Gericht zu zerren. Ich hatte einen Prozess, der sich über 15 Prozesstage hinzog, das ging fast ein Dreivierteljahr. Generell wird man am Ende dann schuldig gesprochen, wobei es dann in Berufung geht oder dieses Urteil angegriffen wird. Irgendwann bekommt man dann einen Brief, wo drinsteht, dass jetzt alles eingestellt ist. Also tatsächlich verurteilt sind wir gar nicht, aber die versuchen, uns auf jegliche Art und Weise zu kriminalisieren.

Das mit dem Staatsschutz können wir insoweit belegen, als dass wir ja hauptsächlich Polizeizeugen im Gericht haben, die gegen uns aussagen. Und da war einer, der berichtete, dass es Dossiermappen über uns gibt. Seit 2009 werden über alle Aktivist*innen der Initiative Dossiers angefertigt, die Foto und private Geschichten enthalten. Diese Dossiers werden Polizisten vorgelegt, die auf Demonstrationen eingesetzt werden. Sie werden aufgefordert, uns gesondert zu verfolgen. Das ist eine Aussage eines Staatsschützers selbst gewesen, von daher ist das ganz gut dokumentiert. Das ging dann auch bis in den Landtag von Sachsen-Anhalt, die haben dann versucht, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Dabei war die Aussage von dem Staatsschutzbeamten, mit Namen etc., so eindeutig, dass er sich das nicht ausgedacht haben kann. Und nach unseren Erfahrungen passt das auch zu dem, was wir in unserem Alltag erleben.“

Durch euch ist bekannt geworden, dass polizeiinterne Akten gelöscht wurden. Auch die Löschprotokolle sollen nicht herausgegeben werden. Ist das der momentane Stand?

„Die ganzen Akten, die den Oury-Jalloh-Fall selber betreffen, sind da und wurden nicht gelöscht. Bei den Löschprotokollen geht es konkret um Disziplinarstrafen gegen Aktivist*innen selber. Wir sind gespannt, ob da tatsächlich etwas rauskommt. Wir kennen die ganze Löschproblematik schon aus dem Gerichtsverfahren mit dem ehemaligen Dienstgruppenleiter, weil der Journaleintrag von der Polizei gelöscht wurde. Da haben sie behauptet, das wäre computertechnisch wegen der Löschfrist passiert. Tatsächlich konnten unsere Anwälte beweisen, dass das manuell gelöscht wurde. Dann ist sogar der höchste IT-Mensch gekommen, um Rechenschaft abzulegen – aber letztlich kam dabei nichts raus. Man darf also echt nicht zu viel erwarten und man sollte sich auch nicht zu viele Hoffnungen machen, dass die Polizei mit offenen Karten spielt. Sie sind immer bemüht, ihre Beamten zu schützen und das eben auch, wenn etwas falsch läuft, beziehungsweise widerrechtlich gelöscht wird. Sie werden sich das nicht eingestehen, aber es ist wichtig, immer schön dran zu bleiben, Druck zu machen und Öffentlichkeit zu mobilisieren.“



Hast du Tipps für Personen, die selber aktiv werden wollen?

„Es ist sehr wichtig, dass man sich mit dem Thema überhaupt beschäftigt und dies im Umfeld weitererzählt, um sich dann gemeinsam zu fragen: Gibt es bei uns in der Nähe solche Fälle? Es wurde jemand in Essen erschossen, es wurde jemand in Kleve in einer Zelle verbrannt, dem nicht geholfen wurde – was ist da überhaupt passiert? Das sind jetzt Beispiele, die schon etwas hoch gekommen sind, aber man kann sich fragen, welche Vorfälle bei einem konkret stattgefunden haben. Und dann kann man auch Fälle, selbst wenn diese Jahrzehnte her sind, wieder hochholen. Es ist total wichtig, dass wir all diese Fälle nicht zu den Akten legen oder der Geschichte überlassen, sondern, dass wir das alles zusammentragen und systematisch immer weiter für alle sichtbar machen.“


Hast du noch eine Anmerkung?

„Von unserer Seite würde ich sagen, dass wir mit der Aufklärungsarbeit weiter machen werden. Der Fall ist jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht. Wenn dieses die Verfassungsbeschwerde ablehnt, gehen wir von der Initiative vor den europäischen Gerichtshof. Aber gleichzeitig haben wir immer im Blick, auch selber aufzuklären. Wir warten nicht, dass sie irgendwann mal zu einem Punkt kommen, sondern setzen uns das Ziel und den Rahmen der Aufklärung selber. Wir werden neue Geschichten starten. Wir werden so lange dranbleiben, bis wir sagen: Es reicht jetzt, jetzt ist der Fall aufgeklärt.“


Es wird zivilgesellschaftliches Engagement benötigt, welches die Realisierung positiven Friedens forciert. Aktivist*innen wie Saeed steuern durch ihr Handeln nicht nur in Richtung des positiven Friedens, sondern arbeiten Fälle von direkter Gewalt auf, welche den negativen Frieden massiv stören. Sobald Einzelfälle sich häufen, täglich auftreten und flächendeckend geschehen, sind sie keine Einzelfälle mehr – sondern strukturelle Gewalt. Die Initiative „Break the Silence“ prangert sowohl direkte als auch strukturelle Gewalt an und stärkt eine kritische Öffentlichkeit, um derartige Gewalt in Zukunft zu verhindern. Während in der Bundesrepublik lediglich ein Teil der Gesellschaft in Richtung des positiven Friedens arbeitet, sind auf Pax alle Bürger*innen an der Friedenspflege beteiligt. Dennoch wird durch solches Engagement positiver Frieden auch bei uns greifbarer – offen bleibt jedoch, ob eine vollständige Durchsetzung dessen möglich ist.


 

Hier weiterlesen: Gegen den Mythos – Teil 3: Zivilgesellschaftliches Engagement für den Frieden

 

Quellen und Anmerkungen:

1 Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2020): Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz). § 14 Ausländervereine. https://www.gesetze-im-internet.de/vereinsg/__14.html. Abgerufen am 28.02.2020.

2 Vgl. Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V. (2019): Pressemitteilung Struktureller Rassismus: https://kub-berlin.org/de/aktuelles/228-pressemitteilung-struktureller-rassismus-landeskriminalamt-lka-fuehrt-liste-von-auslaendervereinen-migrantische-selbstorganisationen-sind-empoert. Abgerufen am 29.02.2020.

3 Jens Puschke beantwortete unsere Fragen am 18.02.2020 via E-Mail.

4 RBB (2019): Unveröffentlichte Studie: 12.000 Verdachtsfälle unrechtmäßige Polizeigewalt pro Jahr. https://www.rbb-online.de/kontraste/pressemeldungen-texte/unveroeffentlichte-studie--12-000-verdachtsfaelle-unrechtmaessig.html. Abgerufen am 29.02.2020.

5 Abdul-Rahman, Laila; Espín Grau, Hannah; et al. (2019): Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen. https://kviapol.rub.de. Abgerufen am 29.02.2020.

6 Das Interview mit Nadine Saeed von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh wurde am 21. Januar 2020 per Telefon geführt.

7 Die weiterführende Literatur beinhaltet Quellen, welche die Chronologie des Falls und zentrale Informationen zusammenfassen.

8 Vgl. Bodelle, Boris (2019): Fachradiologisches Gutachten. o.O.

9 El Moussaoui, Naima; Maus, Andreas (2017): Der Fall Oury Jalloh: Justizskandal ohne Ende. https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/oury-jalloh-110.html. Abgerufen am 29.02.2020.

10 Ebd.


Weiterführende Literatur zu Oury Jalloh:

– Arlt, Susanne (2011): Tod in der Zelle. https://www.deutschlandfunk.de/tod-in-der-zelle.724.de.html?dram:article_id=100071. Abgerufen am 24.02.2020.

– Initiative Oury Jalloh (2020): Break The Silence. Initiative in Gedenken an Oury Jalloh. https://initiativeouryjalloh.wordpress.com. Abgerufen am 01.03.2020.

– MDR (2017): Verbrennungstod eines Asylbewerbers. Chronologie des Falls Oury Jalloh. https://www.mdr.de/sachsen-anhalt/chronologie-oury-jalloh100.html#sprung0. Abgerufen am 24.02.2020.

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Gegen den Mythos – Teil 2: Strafvollzug in Deutschland

Von Sarah Hegazy und Nora Wacker
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